Wie lange habe ich geschlafen? Wie oft habe ich gelacht? Wie viel wiege ich heute? Fast ihr ganzes Leben fassen sie in Zahlen, lassen es von Geräten erfassen, laden Updates online hoch. Es gibt keine Aktivität oder Körperfunktion, die in der neuen Zahlensammler-Bewegung keine Rolle spielt.
Intelligente Armbänder, Waagen und andere elektronische Geräte gehören für Selbstvermesser zum Alltag dazu. Regelmäßig überprüft diese Gruppe von Menschen Daten, die ihr eigener Körper preisgibt. Der Trend heißt „Quantified Self“ und kommt aus den USA, wird aber mittlerweile weltweit praktiziert. Die Anhänger dieser Bewegung versprechen sich durch die Überprüfung und Auswertung ihrer Zahlen ein besseres Leben.
Auch Andreas Schreiber aus Köln gehört zu den Sympathisanten dieser Vermessungsbewegung, die immer mehr werden. Mittlerweile kontrolliert der 43-Jährige täglich mit Hilfe spezieller Selbstvermessungsgeräte und Apps sämtliche Daten seines Körpers – vom Messen seiner Blutwerte, seines Gewichts und Schlafverhaltens über Bauchumfang, Aktivität und Schritten bis hin zum Kaffeekonsum, Geldausgabe-Verhalten und seinen Standorten.
Wie Andreas Schreiber zum Selbstvermessen kam
Als Mathematiker und Wissenschaftler beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt hatte der gebürtige Niedersachse schon immer mit dem Vermessen und Auswerten von Daten zu tun. Doch die Vermessung des eigenen Körpers begann mit einem Schicksalsschlag Ende des Jahres 2009. Andreas Schreiber wollte an einem Samstagvormittag noch etwas am Computer arbeiten, bevor er ins Wochenende startet. Plötzlich bemerkte er, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Bereits zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr in der Lage, seine Frau um Hilfe zu bitten, denn er bekam kein verständliches Wort mehr aus seinem Mund heraus. Im Krankenhaus wurde dann schnell die Diagnose gestellt: Schlaganfall.
Von nun an musste Andreas Schreiber täglich seinen Blutdruck messen. Auch sein Gewicht und seinen Blutzuckerwert überprüfte er mehrmals am Tag: „Ich fing an, die Werte aufzuschreiben, und begann Apps zu nutzen, um meine Daten zu protokollieren.“
Heute geht es dem Kölner schon viel besser, doch beim Vermessen ist er geblieben. „Mit der Zeit ist immer mehr dazugekommen“, gesteht er.
Das Selbstvermessen und seine Gründe
Für ihn persönlich besteht der Reiz des Selbstvermessens darin, herauszufinden, wie sich die Werte seines Körpers im Zusammenhang mit Umwelteinflüssen entwickeln. „Ich möchte zum Beispiel sehen, wie sich der Blutdruck verändert, wenn ich an bestimmten Orten bin“, erklärt Schreiber. Sobald man sich beispielsweise in einer neuen Umgebung befindet, variierten die Daten. Das Vermessen der Schritte hingegen hilft bei der Disziplinierung. Vor seiner Zeit als Selbstvermesser konnte sich Andreas Schreiber nur schwer zu mehr Bewegung motivieren, heute sind 15.000 Schritte sein Tagesziel. Ihm liegt viel daran, seinen täglichen Vorsatz zu erfüllen: „Wenn sich gegen Ende des Tages bemerkbar macht, dass ich mein Ziel verfehlen könnte, steige ich auch mal eine Haltestelle früher aus der Bahn aus und gehe zu Fuß weiter.“
Einige von seinen Daten twittert der überzeugte Selbstdigitalisierer auch. Er misst sich dabei virtuell mit anderen Selbstvermessern: „Ein bisschen Wettbewerb muss sein“, lacht Schreiber und freut sich dabei über den Wochensieg bei den meisten gelaufenen Schritten. Die Zahlen, die er bekannt gibt, werden aber gut ausgewählt: „Ich möchte nicht alle Daten veröffentlichen. Meine Geldausgaben und Blutzuckerwerte muss nicht jeder wissen.“
Andere Selbstvermesser sehen das allerdings nicht so eng. In verschiedenen Foren, in denen sich die Interessierten austauschen, findet man sämtliche persönliche Daten dieser Menschen.
Vorsicht bei Veröffentlichungen
Nils Schröder ist Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen und warnt davor, persönliche Daten ins Netz zu stellen: „Man erzählt viel mehr über sich als nur diese einzelne Zahl.“ Er rät deshalb dazu, möglichst wenig über sich selbst zu erzählen, respektiert aber auch, wenn jemand alles über sich preisgeben möchte: „Jeder muss für sich selber entscheiden, welche Daten er über sich bekannt gibt. Wenn jemand mehr über sich erzählen möchte, sollte er jedoch gut informiert sein und sich die Veröffentlichung gründlich überlegt haben.“ Alle Informationen werden schließlich auf lange Zeit archiviert. Einmal im Internet veröffentlicht sind die Daten jedem zugänglich. Speziell Personensuchmaschinen sammeln persönliche Daten und stellen diese auf Abruf interessierten Personen zur Verfügung.
Sinn oder Unsinn
Neben dem Risiko des Datenmissbrauchs gibt es auch psychologische Bedenken: „Durch die ständige Messung des Blutdrucks zum Beispiel kann man sich selbst in Sorgen stürzen und dadurch zur Erhöhung des eigenen Blutdrucks beitragen“, erklärt Alexander L. Gerlach, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie.
Auch über den Sinn mancher Messungen lässt sich streiten. Da sich das Gewicht nicht ständig verändert, ist ein tägliches Wiegen nicht unbedingt nötig. Das Zählen der Schritte beispielsweise kann jedoch hilfreich sein, je nachdem, was man für ein Ziel verfolgt. „In Abhängigkeit davon, was ich messe und wozu ich es messe, kann tägliches Selbstvermessen super hilfreich sein oder total übertrieben“, fasst der Professor zusammen.
Schreiber geht seinen Weg
Andreas Schreiber aber beschäftigt sich mittlerweile so intensiv mit „Quantified Self“, dass er sogar Treffen unter Gleichgesinnten in Köln veranstaltet. Mittlerweile sind es bereits 90 Mitglieder, die sich regelmäßig über die neusten Trends der Selbstdigitalisierung austauschen. Außerdem hat Schreiber neben seinem Hauptjob beim DLR eine kleine Firma namens Medando gegründet. Dort werden Apps zur Selbstvermessung und Gesundheit entwickelt. „Wir möchten den Menschen mit unseren Produkten die Gesundheitsvor- und nachsorge erleichtern“, erklärt Schreiber. Der 43-Jährige kann sich ein Leben ohne „Quantified Self“ schon gar nicht mehr vorstellen: „Wenn ich das alles jetzt nicht mehr machen würde, dann würde mir was fehlen.“
Tanja Brockmann
- Beim Spazieren gehen darf der Schrittzähler nicht fehlen.
Foto: Kai Kapitän